Jean Asselborn: "Wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik. "

Interview : Spiegel Online (Horand Knaup, Christoph Schult)

SPIEGEL ONLINE: Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz warnt in deutlichen Worten davor, die Flüchtlingskrise in Italien zu ignorieren, und macht daraus ein Wahlkampfthema. Ist das legitim?

Jean Asselborn: Es ist sogar dringend, dringend nötig, das zu thematisieren. Wir brauchen eine europäische Flüchtlingspolitik. Eine europäische Flüchtlingspolitik ist das genaue Gegenteil dessen, was wir haben. Wir haben einige EU-Mitglieder wie Ungarn, die blockieren, und einige, die sich dahinter verstecken. Und wir haben Politiker wie den österreichischen Außenminister, die sich aus rein innenpolitischen Motiven de facto verweigern.

SPIEGEL ONLINE: Warum ist die EU in einer ihrer größten Herausforderungen so hilflos?

Jean Asselborn: Wir diskutieren in jedem Rat der Innen- und Außenminister dasselbe, schon 12-, 13-mal. Das eine Argument der Gegner ist, sie seien eine homogene Gesellschaft, Brüssel kenne ihre Mentalität nicht, und jeder syrische oder irakische Flüchtling sei ein potenzieller Attentäter. Und das zweite Argument ist jetzt, dass jedes Land selbst für seine Sicherheit und seine Migrationspolitik verantwortlich sei.

SPIEGEL ONLINE: Wie viel Zeit haben wir noch?

Jean Asselborn: Ich mische mich nicht in die deutsche Politik ein. Aber wir müssen eine europäische Flüchtlingspolitik hinbekommen, und das können wir nicht länger aufschieben. Darum verstehe ich die innerdeutsche Kritik an dem Aufruf von Martin Schulz eigentlich nicht. Wir eiern jetzt seit 2015 herum. Wir haben versucht, Solidarität flexibel zu definieren. Wissen Sie, in Europa gibt es keine flexible Menschlichkeit, und deshalb gibt es auch keine flexible Definition von Flüchtlingspolitik.

SPIEGEL ONLINE: Die italienische Regierung droht, Flüchtlinge nach Nordeuropa weiterzuschicken, Österreichs Außenminister Kurz will notfalls den Brenner schließen lassen. Für welche Position haben Sie mehr Verständnis?

Jean Asselborn: Ganz sicher nicht für die Position des österreichischen Außenministers. Mit der Forderung, die Mittelmeerroute zu schließen, kann man vielleicht in Österreich Wahlen gewinnen, aber hilfreich ist sie nicht. Man kann das Mittelmeer nicht schließen wie eine Skipiste. Wer das den Menschen vorgaukelt, betreibt Populismus. Zum Glück ist diese Position in der EU nicht mehrheitsfähig.

SPIEGEL ONLINE: Lässt sich überhaupt verhindern, dass sich Menschen auf den Weg über das Mittelmeer machen?

Jean Asselborn: In Libyen leben Hunderttausende in menschenunwürdigen Lagern, sowohl Libyer als auch Menschen aus anderen afrikanischen und sogar asiatischen Ländern. Sie wollen die Hölle dieser Lager verlassen und drängen nach Norden. Wir müssen das Uno-Flüchtlingswerk UNHCR und die Internationale Organisation für Migration in die Lage versetzen, die Zustände in den Lagern zu verbessern. Dazu braucht es Geld und Personal. Den Flüchtlingen muss verdeutlicht werden, welchen Gefahren sie sich aussetzen, wenn sie sich auf den Weg über das Mittelmeer machen. Es muss daran gearbeitet werden, einen Großteil dieser Flüchtlinge in ihre Heimatländer zurückzubringen. Das ist mit einigen Tausend auch schon erfolgreich passiert.

SPIEGEL ONLINE: Und welche konkrete Hilfe schlagen Sie für Italien vor?

Jean Asselborn: Was in Italien passiert, ist kein italienisches, sondern ein europäisches Problem. In den Hotspots müssen auch andere EU-Staaten präsent sein, mit Geld und mit Logistik. Wir Europäer müssen den Italienern beim Screening der Flüchtlinge helfen. Wir müssen schneller als bisher feststellen, wer unter die Genfer Konvention fällt und wer nicht. Für die, die unter die Genfer Konvention fallen, muss das "relocation system", also ein funktionierendes Verteilungssystem, endlich angekurbelt werden. Wir haben bislang erst 25.000 Migranten auf andere europäische Länder verteilt. 160.000 waren vorgesehen - da gibt es also noch Luft nach oben. Wer nicht unter die Genfer Konvention fällt, muss mit EU-Mitteln in seine Heimat zurückgebracht werden.

SPIEGEL ONLINE: Aber das zerstrittene Europa ist doch genau Kern des Problems.

Jean Asselborn: Stimmt. Wir bräuchten wie beim Europäischen Patentamt eine europäische Gerichtsbarkeit. Bei der Definition von Flüchtling, bei der Prozedur der Anerkennung und auch bei den sozialen Begleitmaßnahmen müsste es zu einer Vereinheitlichung kommen. Damit wir die Reform des Dublin-Systems hinkriegen und nicht weitere zehn Jahre die Last der Flüchtlinge den EU-Mitgliedern mit einer Außengrenze überlassen. Jedes Mitglied muss wissen: Wenn eine Flüchtlingswelle kommt, steht auch der Verteilungsschlüssel.

SPIEGEL ONLINE: Und wenn sich Ungarn und andere weiter weigern?

Jean Asselborn: Solange hier blockiert wird, werden wir das nicht fertigbringen. Ich hoffe, dass uns im September der Europäische Gerichtshof gegen die Klagen der Ungarn und Slowaken hilft, das System in Gang zu bringen. Unfassbar, wenn 40 Millionen Polen von 6000 Flüchtlingen "zersetzt" werden würden, wie es dort heißt. Wenn der Europäische Gerichtshof im September entscheiden sollte, dass die Quote zur Umverteilung rechtens ist, sollte die EU-Kommission gegen diejenigen Länder, die sich weigern, ihren gesetzlich vorgeschriebenen Anteil aufzunehmen, vorgehen. Im Gespräch sind 250.000 Euro pro nicht aufgenommenem Flüchtling. Polen zum Beispiel müsste dann 1,5 Milliarden Euro zahlen. Dieser Druck könnte hilfreich sein.